Die Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda
Bevor es zu der Errichtung eines permanenten internationalen Strafgerichtshofs kommen konnte, erforderten die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien ein Handeln der UNO. Der Zerfall Jugoslawiens hatte zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und seinen ehemaligen Teilrepubliken Kroatien und Bosnien-Herzegowina geführt. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen waren schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen worden.

Auf eine Resolution des Sicherheitsrates hin rief der UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali im Oktober 1992 eine fünfköpfige Expertenkommission ins Leben, die die schweren Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien untersuchen sollte. Im Februar 1993 empfahl diese Kommission in ihrem Zwischenbericht die Schaffung eines internationalen Kriegsverbrechertribunals; zu demselben Ergebnis kam ein Gutachten der KSZE.
Am 22. Februar 1993 erließ der Sicherheitsrat der UNO die Resolution 808, in der er die Schaffung eines internationalen Gerichtshofes beschloss und den Generalsekretär dazu aufforderte, diesbezüglich Vorschläge zu machen. Dieser riet in seinem Bericht dazu, den Gerichtshof durch eine Sicherheitsratsresolution auf der Grundlage des Kapitels VII UNO-Charta zu errichten.

Verglichen mit der Schaffung des Gerichtshofs durch einen internationalen Vertrag bot dieses Verfahren mehrere Vorteile. Zum einen konnte der Gerichtshof schneller errichtet werden. Internationale Verhandlungen hätten sehr viel mehr Zeit bedurft. Zum anderen garantierte die Errichtung durch Sicherheitsratsresolution eine Bindung der Mitglieder der UNO an das Statut des Gerichtshofs gemäß Artikel 25 UNO-Charta.
In Resolution 827 (1993) nahm der Sicherheitsrat den Bericht des Generalsekretärs und das Statut des Jugoslawiengerichtshofs (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ICTY) an. Die Richter des ICTY wurden am 15. September 1993, der erste Chefankläger Richard Goldstone am 15. August 1994 gewählt.
Der ICTY ist für die seit dem 01.01.1991 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien begangenen Verbrechen zuständig. Seine Zuständigkeit umfasst die Verfolgung grober Verletzungen der Genfer Konventionen von 1949, Verletzungen der Gesetze und Sitten des Krieges, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seine personelle Zuständigkeit erstreckt sich auf natürliche Personen, unabhängig von ihrer offiziellen Position. Die Funktion als Staatsoberhaupt oder Regierungsmitglied schließt weder die Strafbarkeit aus, noch stellt sie einen Strafmilderungsgrund dar.

Der ICTY und nationale Gerichte haben konkurrierende Zuständigkeit, wobei dem ICTY Vorrang zukommt. Er kann nationale Gerichte in jedem Stadium eines Verfahrens auffordern, das Verfahren an ihn abzutreten.
Aufgrund der begrenzten finanziellen Möglichkeiten des ICTY, ist es der Anklägerin Carla Del Ponte unmöglich, alle in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallenden Verbrechen zu untersuchen. Sie hat es daher zu ihrer Priorität erklärt, die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen, d.h. politische, militärische und zivile Anführer anzuklagen.
ICTR
Kurz nach der Errichtung des ICTY war es notwendig, ein weiteres adhoc-Tribunal nach seinem Muster zu schaffen.
Zwischen dem 06. April und dem 18. Juli 1994, in nur 100 Tagen, wurden in Ruanda zwischen 500.000 und 1 Million Menschen umgebracht. Die Opfer waren vor allem Angehörige der Tutsi-Minderheit, aber auch oppositionelle und gemäßigte Hutu. Es wird geschätzt, dass über die Hälfte der Hutu-Bevölkerung an dem Völkermord beteiligt war. Angestachelt durch eine staatlich organisierte Hasskampagne metzelten Nachbarn ihre Nachbarn, Freunde ihre Freunde nieder, vergewaltigten oder verstümmelten sie.
Nachdem die UNO, obwohl rechtzeitig unterrichtet, dem Massaker tatenlos zugesehen und die in Ruanda stationierten UNAMIR-Soldaten kurz vor der Eskalation der Gewalt sogar größtenteils abgezogen hatte, sah sie sich nach dem Ende des Mordens zumindest in der Pflicht, die Schuldigen vor Gericht zu bringen.

Die neue ruandische Regierung, die aus gemäßigten Hutu und aus Tutsi bestand und zu dieser Zeit einen Sitz im Sicherheitsrat innehatte, forderte die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofes nach dem Vorbild des ICTY. Aus Kostengründen stand der Sicherheitsrat diesem Plan anfangs skeptisch gegenüber und weigerte sich deshalb auch, die Ereignisse in Ruanda als Völkermord zu bezeichnen. Seine Haltung änderte sich erst, als der Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der UNO in seinem Bericht vom Juni 1994 das Ausmaß der Verbrechen schilderte. Am 1. Juli 1994 errichtete der Sicherheitsrat durch Resolution 935 eine Expertenkommission für Ruanda mit dem Auftrag, Beweise für die in Ruanda begangenen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und den Genozid zu sammeln und eine Empfehlung für die Strafverfolgung der Beschuldigten abzugeben.
Überlegungen, die gerichtliche Aufarbeitung in Ruanda vorzunehmen, scheiterten daran, dass das ruandische Justizsystem völlig am Boden lag. Außerdem wurde befürchtet, dass nationale Verfahren von den Hutu als Rachefeldzug verstanden werden könnten und ins Ausland geflüchtete Verbrecher von den Exilländern nicht an Ruanda ausgeliefert werden würden.
Vorschläge, die Kompetenz des ICTY auf die in Ruanda begangenen Verbrechen auszudehnen, wurden vor allem von Ruanda abgelehnt. Es sah sich hierdurch auf einen Staat zweiter Klasse reduziert. Schließlich beschloss der Sicherheitsrat am 8. November 1994 mit der Resolution 955 die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (ICTR) und nahm dessen Statut an.

Der ICTR ist für Verbrechen, begangen in Ruanda oder durch ruandische Staatsangehörige auf dem Gebiet benachbarter Staaten für den Zeitraum zwischen dem 01. Januar 1994 und dem 31. Dezember 1994 zuständig. Seine personelle Zuständigkeit erstreckt sich auf natürliche Personen. Seine sachliche Zuständigkeit erfasst das Verbrechen des Genozids, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Verletzung des auf interne Konflikte anwendbaren Kriegsrechts (Artikel 3 und 2. Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen). Wie bereits in den Statuten des IMT und des ICTY ist auch im Statut des ICTR bestimmt, dass die offizielle Eigenschaft einer Person die strafrechtliche Verantwortlichkeit weder ausschließt noch mildert. Entsprechend dem Vorbild des ICTY genießt die Gerichtsbarkeit des ICTR Vorrang vor nationaler Gerichtsbarkeit.
Der ICTR wurde nicht nur nach dem Muster des ICTY errichtet. Beide Tribunale teilen dieselbe Berufungskammer und dieselbe Anklägerin. Daneben verfügen ICTR und ICTY jeweils über drei erstinstanzliche Kammern und je eine Kanzlei, die Verwaltungsaufgaben wahrnimmt.